Tagebuch
Kleine Karos
Demokratie braucht Parteien - und umgekehrt. Demokratische Parteien verlieren hierzulande jedoch immer weiter an Profil und stempeln politisch Andersdenkende zu Feinden ab. Kleinkarierte Scheingefechte bestimmen in Deutschland derzeit zu sehr die Szenerie. Die Demokratie muss sich gegen wachsende Gefahren wehren - das fällt ihr sichtbar schwer. Minderheitsregierungen betreten die politischen Schauplätze. Dagegen ist nicht unbedingt etwas zu sagen, solange sie klare Aussagen für die wirklich wichtigen Aufgaben unserer Gesellschaft in der Zukunft treffen.
Meinung äußern
Tag der Demokratie in Sachsen, 1. September. Das Kreuzchen auf dem Stimmzettel steht jedem und jeder frei. Was noch zählt: Meinung offen äußern wollen und können. Andere Standpunkte akzeptieren, darüber nachdenken. Weiter geht es für alle Menschen, die hier leben, nur gemeinsam, nicht gegeneinander. Sich selbst dabei nicht im Weg stehen (Gilt immer, für jede und jeden).
Rücksicht aufeinander
Bernardini ist ein Mann gleich hier aus meiner Nachbarschaft. Aller paar Tage ziehen wir voreinander den Hut und vertiefen uns in ein kleines Plauderstündchen. Auf einer hölzernen Bank am Weg sitzen wir dann, aber nur so lange, bis mein Freund sich erhebt, und seine Rede in einem stehenden Wippen fortsetzt. Bernardini, dereinst auf Honorarbasis für die Obere Unterweltbehörde tätig, ruft bei jedem Mal ein Thema aus. Nun, bei seinem neulichen Vortrag, hieß es Rücksicht. Um es genau zu benennen, Rücksichtnahme. Das Titulieren ist Bernardinis große Stärke nicht, dafür aber sein messerscharfer Geist.
Rücksicht aufeinander treffen wir heute fast nicht mehr an, rief er Leuten zu, die nichtsahnend über den Boulevard liefen. Brillant an dem Ganzen war nun seine Argumentation. Würden einige Bürger mehr gelegentlich den Kopf zur Seite drehen, um sich ihrem nächsten Mitmenschen und dessen Schicksal in liebevoller Anteilnahme zuzuwenden, stärke dies ihre Halswirbel. So werde ein wertvoller Beitrag zur dringend notwendigen besseren Beweglichkeit des eigenen Körpers geleistet, waren seine weiteren Worte.
Die Schlussfolgerung lautete: Egoistische Belange kommen immer der Allgemeinheit zugute. Bernardinis Zuhörer blieben, jeder für sich, ratlos zurück.
Höchstens drei
Wann nehmen die Krisen ein Ende? So oft diese Frage zu hören ist – Antwort auf sie geben kann keiner. Sind wir deshalb so deprimiert? Ob der Krieg, das Klima oder die Inflation, unser Land ist direkt betroffen. Gefühlt mehr als andere, wie es scheint. Viele Leute hier üben sich in Rückzug. Sind sie auf dem Holzweg? Nein, keinesfalls. Sich besinnen, im privaten Leben nach Lösungen suchen, individuelle Antworten finden, das sind kleine, richtige Schritte. So geht der Weg nach vorn. Bewusster leben, könnte gesagt werden, das hat die Stunde geschlagen. Kann nicht jeder von dem Zuviel, das er hat, etwas oder mehr abgeben? Verzeihung, doch es ist ein tolles Gefühl des Erinnerns, wie Decheiver, ein kantiger Typ mit schulterlangen Haaren, einst beim SC Freiburg dem Gegner einen Ball nach dem anderen ins Tor knipste. So ähnlich könnten wir es doch auch mit dem Licht machen, oder? Den Schalter ein paarmal am Abend ausknipsen. Die Heizung im Herbst wieder auf höchstens drei drehen, wenn wir an die kalte Finsternis im Osten denken. Jede Krise schrumpft, wenn sich nur ausreichend viele widersetzen.
Kaltes Wasser
An einem dieser heißen und trockenen Sommertage kam ich auf dem Weg zur Straßenbahn wie zufällig an dem kleinen, lebhaften Brunnen vorbei. Ein fröhlicher Bursche aus schwarzem Stein ließ sich genüsslich das kühle Wasser über sein Gesicht laufen. Das Becken war klein, weshalb ich meinen spontanen Plan, neben ihm hineinzusteigen, nicht so leicht verwirklichen konnte. Allemal vorstellen, wie erfrischend das hätte sein können, vermochte ich mir aber auf der Stelle. Freunde und Mitmenschen, dachte ich, tut euch ein Gutes am Wasser, damit eure Seelen nicht eintrocknen! Wir laufen in unserem gesegneten Land so oft mürrisch aneinander vorbei und nehmen es mit rücksichtsvoller Verständigung leider nicht sehr genau. Die Füße für ein paar Minuten ins kalte Wasser halten, umschwirrten mich die Gedanken weiter, wie herrlich frei macht das unter Umständen den Kopf. Mienen könnten sich entspannen, alle Wetter-Apps für gewisse Zeit ignoriert werden. Vielleicht wendet sich mancher Blick sogar dem Himmel zu, hielt ich einen Moment lang für möglich. Vorurteile mal beiseite, Leute, wenn Wolken aufziehen! Und nicht immer gleich den Schirm aufspannen.
Alles normal
"Nun hatten wir gedacht, die Krise neige sich langsam dem Ende zu", schreibt Verleger Alfred Klemm in seiner Programmvorschau, "und bald würde wieder alles normal werden, so wie wir es kennen und lieben. Doch schon folgt die nächste Tragödie, und wir können nur daneben stehen und allenfalls Tropfen auf den heißen Stein gießen." Diese Gedanken des Geschäftsführers vom Kröner-Verlag, dessen Bücher ich sehr verehre, und die einen Ehrenplatz in meiner Buchhandlung haben, bewegen mich in dieser Zeit besonders. Was können wir ausrichten in einer Welt voller Gewalt, des Neids und der Zerstörung? Erschreckend wenig, das kommt uns immer mehr vor Augen. Doch: "In solchen Zeiten sind Bücher, sind die Literatur, die Musik, die Kunst, wichtiger denn je, nicht nur durch ihre Kapazität, Missstände aufzudecken, aufzuklären, Entwicklungen vorauszusehen, in menschliche Abgründe zu blicken, sondern auch und vielleicht sogar vor allem durch ihre Fähigkeit, uns in fremde Welten zu entführen, uns zu helfen, unseren Alltag, unsere Grübeleien hinter uns zu lassen und eine Weile das Leben eines Anderen zu leben - und so auch dazu beizutragen, den Anderen, die Anderen, besser, von innen her zu verstehen."
Ich gebe zu, diese hoffnunglos hoffnungsvollen Gedanken bringen mich jeden Tag dazu, die Türen meiner Buchhandlung wieder aufzuschließen - und zu erleben, dass die Buchkäufer in ihren Köpfen und Herzen die gleichen oder ähnliche Wünsche hin- und herbewegen. Denn, um noch einmal Alfred Klemm zu zitieren: "Das ist es, was wir an der Literatur lieben, und warum wir trotz aller Schwierigkeiten nicht damit aufhören werden, gute Literatur unter die Leute zu bringen."